Rollenverständnis und -dynamik: Ein Schlüssel zum Verständnis von Beziehungen und Gruppen

In der Psychologie und Soziologie spielen Rollenverständnis und -dynamik eine entscheidende Rolle bei der Untersuchung des menschlichen Verhaltens in Beziehungen und Gruppen. Jedes Individuum nimmt in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Rollen ein – sei es als Freund, Partner, Elternteil, Mitarbeiter, Führungskraft, etc. – und diese Rollen beeinflussen maßgeblich, wie wir uns verhalten und wie wir mit anderen interagieren.

Das Rollenkonzept wurde ursprünglich von dem Soziologen Talcott Parsons entwickelt, der argumentierte, dass Rollen bestimmte Erwartungen und Verhaltensweisen mit sich bringen, die dazu dienen, soziale Ordnung zu schaffen und aufrechtzuerhalten (Parsons, 1951). Seitdem hat dieses Konzept in verschiedenen Disziplinen, einschließlich der Gruppendynamik und der systemischen Therapie, breite Anwendung gefunden.

In der Paar- und Familientherapie wird oft auf die Rollen hingewiesen, die Individuen in ihren Beziehungen einnehmen. Zum Beispiel kann in einer Familie ein Elternteil die Rolle des „Versorgers“ übernehmen, während das andere Elternteil die Rolle des „Pflegers“ einnimmt. Diese Rollen können sowohl hilfreich als auch einschränkend sein und beeinflussen die Dynamik der Beziehungen innerhalb der Familie (Minuchin, 1974).

In Teams oder Arbeitsgruppen können ebenfalls verschiedene Rollen identifiziert werden. Belbin’s Teamrollenmodell (1981) zum Beispiel identifiziert neun verschiedene Rollen, die in effektiven Teams vorhanden sein sollten, einschließlich „Implementer“, „Teamworker“ und „Completer Finisher“. Jede Rolle bringt bestimmte Stärken und Schwächen mit sich, und das Verständnis dieser Rollen kann dazu beitragen, die Teamdynamik und -leistung zu verbessern.

Abschließend kann gesagt werden, dass das Verständnis der Rollen und deren Dynamik ein wertvolles Werkzeug zur Verbesserung von Beziehungen und Gruppendynamiken darstellt.

Um das Verständnis unserer eigenen Rollen und der damit verbundenen Erwartungen zu vertiefen, kann eine einfache Reflexionsübung hilfreich sein. Diese Übung kann alleine oder mit einem Therapeuten oder Berater durchgeführt werden.

Reflexionsübung: Rollen und Erwartungen

  1. Rollen identifizieren: Beginnen Sie mit der Identifikation der verschiedenen Rollen, die Sie in Ihrem Leben einnehmen. Schreiben Sie diese Rollen auf, z.B. Partner/in, Elternteil, Freund/in, Mitarbeiter/in, etc.
  2. Erwartungen reflektieren: Überlegen Sie für jede Rolle, welche Erwartungen Sie an sich selbst in dieser Rolle haben. Schreiben Sie diese Erwartungen auf. Versuchen Sie, sowohl die positiven als auch die negativen Aspekte zu betrachten.
  3. Externe Erwartungen berücksichtigen: Überlegen Sie als Nächstes, welche Erwartungen andere Menschen an Sie in jeder dieser Rollen haben könnten. Diese können von Ihren eigenen Erwartungen abweichen.
  4. Vergleich und Konfliktanalyse: Vergleichen Sie die Erwartungen, die Sie an sich selbst haben, mit den Erwartungen, die Sie glauben, dass andere an Sie haben. Identifizieren Sie eventuelle Diskrepanzen oder Konflikte zwischen diesen Erwartungen.
  5. Reflexion und Diskussion: Reflektieren Sie Ihre Gedanken und Gefühle bezüglich dieser Rollen und Erwartungen. Sind Sie zufrieden mit den Rollen, die Sie einnehmen? Gibt es Rollen, die Sie ändern möchten? Gibt es Erwartungen, die Sie als belastend empfinden? Diskutieren Sie diese Punkte mit einem Therapeuten, Berater oder einer vertrauenswürdigen Person.

Diese Übung kann Ihnen helfen, Ihre Rollen und die damit verbundenen Erwartungen besser zu verstehen und zu reflektieren, wie diese Ihre Beziehungen und Ihr Wohlbefinden beeinflussen.

Parsons, T. (1951). The Social System. Free Press.

Minuchin, S. (1974). Families and Family Therapy. Harvard University Press.

Belbin, R. M. (1981). Management Teams: Why they succeed or fail. Butterworth-Heinemann.

Das „Michelangelo Phänomen“ in der Paarbeziehung

Viele von uns kennen Gedanken wie „ich wäre auch gerne so selbstbewusst wie mein Partner oder meine Partnerin“ und „ich wünschte ich könnte mir guten Gewissens Auszeiten vom Alltag nehmen“.

Während sich dies in unserer Leistungsgesellschaft oftmals in konkurrierendem Verhalten äußert, kann es in einer Paarbeziehung eine sich gegenseitig verstärkende Verbindung ergeben.

In einer glücklichen Partnerschaft können sich Beide derart unterstützen, dass der jeweils gewünschte, aber eher noch unterentwickelte Anteil stärker zum Vorschein kommt. So kann zum Beispiel die optimistisch durchs Leben gehende, aber beruflich gestresste Frau ihren Partner dazu bewegen, mehr Zuversicht in künftige Projekte und anstehende Dinge zu legen. Während der eher pessimistische Mann gleichzeitig seine Partnerin dazu ermutigen kann, sich mehr Auszeiten zu gönnen.

So wie der Renaissancekünstler „Michelangelo“ bei seinen Skulpturen, können Partner sich gegenseitig dabei helfen, eher verborgene Eigenschaften und Stärken in ihrem Gegenüber zu erkennen, freizulegen und zu fördern.

Ein zentrales Element, um dieses Idealbild des Partners und der Partnerin kennen zu lernen, stellt die Kommunikation dar. Im alltäglichen Austausch über Wünsche, Ziele und Ängste entwickeln sich Vertrauen und Empathie zwischen den Liebenden. Diese ermöglichen die gegenseitige Unterstützung.

Trotz Empathie ist es dennoch wichtig auch das eigene Ich nicht aus den Augen zu verlieren. Nur wer seine eigenen Bedürfnisse, Grenzen und Wertvorstellungen wahrt, kann sein Gegenüber beim Erreichen seiner Ziele unterstützen.

An dieser Stelle sei noch erwähnt, dass es neben einer Paarbeziehung mit einem gelebten „Michelangelo Phänomen“ und damit verbundener Anstrengung und Herausforderung, auch die Möglichkeit der Paarbeziehung gibt, welche weniger auf Selbstentwicklung und mehr auf Stabilität setzt. Auch diese Partnerschaft kann sehr glücklich sein und andere Bedürfnisse in den Vordergrund rücken.

Zum ausführlichen Lesen:

Quelle: „Psychologie Heute“ Ausgabe März 2021